In einem Beschluss vom 26. März 2024 hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) unter dem Aktenzeichen VIII ZR 89/23 dazu geäußert, dass das Berufungsgericht die Rechte der Beklagten auf rechtliches Gehör verletzt hat, indem es ohne sachverständige Begutachtung eine Schadensschätzung vornahm.
Diese Entscheidung hat weitreichende Implikationen für die Praxis der Schadensschätzung in zivilrechtlichen Verfahren – insbesondere zur Frage des Absehens von der Einholung eines Sachverständigengutachtens.
Sachverhalt
Die Kernfrage des Falles betraf die Haftung einer Beklagten für entgangenen Gewinn aufgrund von Wettbewerbsverletzungen nach einem Unternehmenskauf. Die Klägerin, eine Gesellschaft im Bereich der Kinderintensivpflege, hatte von der Beklagten ein Unternehmen gekauft, das sich ebenfalls auf die Betreuung schwerstkranker Kinder spezialisiert hatte. Trotz eines vereinbarten Wettbewerbsverbots gründete die Beklagte kurz nach dem Verkauf eine neue Gesellschaft im selben Geschäftsbereich und zog Mitarbeiter der übernommenen Gesellschaft ab.
Rechtliche Analyse
Das Landgericht wies die Klage zunächst ab. In der Berufung wurde die Beklagte jedoch zur Zahlung von Schadenersatz in Höhe von 350.000 Euro verurteilt, basierend auf einer Schadensschätzung des Gerichts. Diese Schätzung wurde ohne ein eingeholtes Sachverständigengutachten vorgenommen, was von der Beklagten angefochten wurde. Der BGH hob das Berufungsurteil teilweise auf und verwies es zurück an das Berufungsgericht.
Die Rolle der richterlichen Sachkunde
Ein zentraler Aspekt der Entscheidung war die Frage der richterlichen Sachkunde. Der BGH stellte klar, dass das Berufungsgericht eine eigene Sachkunde für betriebswirtschaftliche Fragen in Anspruch nahm, ohne diese zu begründen oder nachzuweisen. Nach ständiger Rechtsprechung darf ein Gericht nur dann auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichten, wenn es seine besondere Sachkunde ausweisen kann. Im vorliegenden Fall wurde dies vom Berufungsgericht versäumt.
Verletzung des rechtlichen Gehörs
Weiterhin betonte der BGH, dass die Nichtberücksichtigung des angebotenen Sachverständigenbeweises eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör darstellte. Das Gericht hätte den Parteien einen entsprechenden Hinweis erteilen und ihnen ermöglichen müssen, ihren Vortrag zu ergänzen. So wird detailliert auf die Problematik eingegangen, dass das Berufungsgericht den angebotenen Sachverständigenbeweis zur Schadenshöhe nicht berücksichtigte, was eine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beklagten darstellte:
- Verletzung des rechtlichen Gehörs: Der BGH stellte fest, dass das Berufungsgericht durch die Nichtberücksichtigung des Sachverständigenbeweises den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzte. Das Berufungsgericht nahm fälschlicherweise an, es könne ohne sachverständige Hilfe den Schaden schätzen, und stützte sich dabei auf eine eigene, nicht dargelegte Sachkunde.
- Fehlende Begründung für eigene Sachkunde: Der BGH kritisierte, dass das Berufungsgericht seine Entscheidung auf eigene Sachkunde stützte, ohne diese nachvollziehbar darzulegen. In Fällen, die fachspezifisches Wissen erfordern, darf ein Gericht nur dann auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichten, wenn es seine spezielle Sachkunde ausweisen kann. Das Berufungsgericht versäumte es, seinen eigenen Fachverstand in dieser Hinsicht zu begründen.
- Anforderungen an die richterliche Sachkunde: Der BGH erläuterte, dass das Gericht den Parteien hätte mitteilen müssen, dass es über die erforderliche Sachkunde verfügt und diese transparent machen sollte. Diese Vorgehensweise hätte den Parteien ermöglicht, auf diese Annahme zu reagieren und ihren Vortrag entsprechend anzupassen.
- Notwendigkeit eines Sachverständigengutachtens: Es wurde festgestellt, dass die komplexen betriebswirtschaftlichen Fragen zur Schadenshöhe und die Auswirkungen von unternehmerischen Entscheidungen auf den Gewinn einen Sachverständigen erfordern würden. Die Annahme des Berufungsgerichts, dass ein Sachverständiger keine weiterführenden Erkenntnisse liefern könnte, wurde vom BGH als unzulässige Überschreitung der richterlichen Kompetenz angesehen.
- Entscheidungserheblichkeit der Gehörsverletzung: Der BGH erklärte, dass die Gehörsverletzung entscheidungserheblich war, da nicht auszuschließen ist, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung des Sachverständigenbeweises zu einem anderen Ergebnis bezüglich der Schadenshöhe gelangt wäre. Dies führte zur teilweisen Aufhebung des Urteils und Rückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Fazit
Dieser Beschluss des BGH unterstreicht die Bedeutung einer fundierten und transparenten Schadensschätzung in zivilrechtlichen Streitigkeiten. Er hebt hervor, dass Gerichte ihre Entscheidungen auf eine solide und nachweisbare Tatsachengrundlage stützen müssen, insbesondere wenn es um die Beurteilung komplexer wirtschaftlicher Sachverhalte geht.
Die detaillierte Auseinandersetzung des BGH betont die Bedeutung der Einhaltung prozessualer Regeln und der Gewährung des rechtlichen Gehörs in Gerichtsverfahren, insbesondere bei der Schadensbewertung in komplexen wirtschaftlichen Streitigkeiten. Die Einholung von Sachverständigengutachten spielt dabei eine entscheidende Rolle, um die Rechte der Parteien auf ein faires Verfahren zu wahren.
- Russische Militärische Cyber-Akteure nehmen US- und globale kritische Infrastrukturen ins Visier - 11. September 2024
- Ransomware Risk Report 2024 von Semperis - 11. September 2024
- Künstliche Intelligenz in Deutschland – Status, Herausforderungen und internationale Perspektiven - 10. September 2024