Weiterhin scheiden sich an ACTA die Geister und zunehmend rückt nun die strafrechtliche Komponente in den Fokus. Auch bei der digitalen Gesellschaft liest man dazu nun etwas (hier, Punkt 3). Ein guter Anlass für einige fachliche Erklärungen.
Blicken wir dort auf den ersten Satz unter Punkt 3:
Strafrechtliche Sanktionen zur Durchsetzung von geistigen Eigentumsrechten sind nicht Teil des EU-Acquis – der einzige Versuch, solche Sanktionen einzuführen, scheiterte 2007 mit IPRED im Rat. Zudem gehen die strafrechtlichen Bestimmungen in ACTA über die bereits abgelehnten Vorschläge hinaus.
Exkurs: Es ist an erster Stelle klar zu stellen, dass unmittelbare strafrechtliche Sanktionen gar nicht Teil der EU-Kompetenz sind. Vielmehr ist klar, dass die Strafgewalt bei den einzelnen Mitgliedsstaaten verblieben ist. Gleichwohl sah man die Notwendigkeit, hier eine Harmonisierung zu beginnen. Geschichtlich sollte man dazu wissen, dass vor dem Vertrag von Lissabon nur die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) als so genannte „3. Säule“ der EU existierte und insgesamt die Harmonisierung des Strafrechts eher sehr, sehr zögerlich voran schreitet. Das lässt sich vor allem mit erheblichen kulturellen Unterschieden innerhalb der EU erklären und den damit einher gehenden unterschiedlichen Vorstellungen, was strafbar sein soll und was nicht. Ein Beispiel, das dies verdeutlicht, ist die Entwicklung der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs in den verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten. Wer sich das vor Augen hält, kann sich gut erklären, warum die EU aus gutem Grund nur sehr begrenzte Möglichkeiten im Bereich des Strafrechts hat.
Vor diesem Hintergrund ist dann der Art. 83 AEUV zu verstehen, wo man u.a. liest:
Das Europäische Parlament und der Rat können gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität festlegen, die aufgrund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben.
Derartige Kriminalitätsbereiche sind: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität.
Also: Eine Kompetenz der EU, unmittelbar wirkende strafrechtliche Sanktionen (etwa durch eine Verordnung) zu erlassen, ergibt sich darauf gerade nicht. Vielmehr ist von Richtlinien die Rede, die die Mitgliedsstaaten dann umzusetzen hätten. Insofern wäre der oben zitierte erste Satz eigentlich richtig, wenn auch wohl nicht so, wie es eigentlich gemeint ist: Strafrechtliche Sanktionen sind bei der EU in diesem Sinne gar nicht vorgesehen, also natürlich auch nicht wegen „geistigen Eigentums“. Wenn überhaupt, würde sich die EU durch eine Unterzeichnung von ACTA letztlich dazu verpflichten, eine Richtlinie nach Art. 83 AEUV zu erlassen. Die Kritiker werden anmerken: Schlimm genug. Ich werte das hier nicht.
Weiter: Nun kommt die einzig relevante Frage – kann die EU überhaupt eine Richtlinie erlassen, die strafrechtliche Sanktionen in diesem Bereich vorsieht? Dazu muss man oben noch einmal in die abschliessende Auflistung blicken, um festzustellen: Von „Geistigem Eigentum“ steht da nichts. Also kann die EU gar nicht das tun, wozu sie sich verpflichten würde?
Nun sieht im Art. 83 AEUV auch noch das hier:
Je nach Entwicklung der Kriminalität kann der Rat einen Beschluss erlassen, in dem andere Kriminalitätsbereiche bestimmt werden, die die Kriterien dieses Absatzes erfüllen. Er beschließt einstimmig nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.
Also steht doch zu befürchten, dass mankurzerhand den Katalog erweitern wird, richtig?
Falsch.
Blicken wir wieder nach oben, in den abschließenden Katalog und halten uns an dem Zauberwort „organisierte Kriminalität“ fest. Es ist dogmatisch zwar im Detail umstritten, was dazu gehört, letztlich steht der Kern aber fest: Locker gesagt geht es um systematisch begangene Straftaten aus verschiedenen Bereichen, u.a. der Wirtschaftskriminalität. Dabei gehört zur Wirtschaftskriminalität auch – die Produktpiraterie. Also jedenfalls im Bereich der Produktpiraterie des Wirtschaftsrechts ließe sich problemlos eine Richtlinie mit derartigen Sanktionen umsetzen. Und nun sehen wir in Art. 23 I ACTA, wo die Verpflichtung zur Einführung strafrechtlicher Sanktionen steht:
Jede Vertragspartei sieht Strafverfahren und Strafen vor, die zumindest bei vorsätzlicher Nachahmung von Markenwaren oder vorsätzlicher unerlaubter Herstellung urheberrechtlich oder durch verwandte Schutzrechte geschützter Waren in gewerblichem Ausmaß Anwendung finden
Man beachte das Wort „gewerblich“, was schlechthin einen Bezug zum Wirtschaftsrecht hat. Dabei ist zu beachten, dass ACTA zwischen „gewerblich“ und „geschäftlich“ unterscheidet, was bei der Auslegung von Bedeutung sein wird. Die EU verpflichtet sich hier also im Ergebnis m.E. schlicht dazu, das zu machen, was im Artikel 83 AEUV als Möglichkeit vorgesehen ist.
Also Fazit bis hier: Sanktionen sind ohnehin nicht möglich, sondern wenn dann „nur“ Richtlinien. Die aber sind keineswegs unmöglich. Dass bereits vorgeschlagen wurde, die Sache zur grundsätzlichen Klärung dem EUGH vorzulegen ist im übrigen eine kluge Anregung gewesen.
Nun zum zweiten Satz:
Das EU-Parlament hatte unter anderem Ausnahmen für Privatkopien und „Fair-Use“ für bestimmte Bereiche wie Berichterstattung, Lehre, Wissenschaft oder Forschung gefordert. Diese Forderungen wurden in ACTA nicht berücksichtigt, Ausnahmen sind nicht vorgesehen.
Gut, an der Stelle versuche ich es mit Polemik: Glauben die Leser denn wirklich, dass es Ziel ist, Kopien im Rahmen von Wissenschaft und Lehre plötzlich unter Strafe zu stellen? Bei aller berechtigter Kritik und Hysterie – das grenzt an eine Verschwöerungstheorie.
Auch hier ist wieder saubere Arbeit am „Gesetz“ (genauer: am Vertrag) gefordert. ACTA verlangt eine Strafbarkeit von u.a. Urheberrechtsverletzungen, die „in gewerblichem Ausmaß begangen“ werden. Es kommt also darauf an, ob die Betrachtung der Verletzungshandlung als solcher sich als gewerblich darstellt. Das ist zu unterscheiden von dem ansonsten erwähnten „geschäftlichen Verkehr“ in dem man evt. agiert. Es kommt also mal auf den Umfang (die Bewertung) der Verletzungshandlung an, mal darauf in welchem Umfeld die Handlung begangen wird. Die grundsätzliche Strafbarkeit setzt auf die gewerbliche Verletzungshandlung an. Handelt es sich bei dem einfachen Kopieren einer CD für private Zwecke (gemeinhin – fälschlicherweise – als Recht zur Privatkopie benannt) um eine gewerbliche Handlung? Nein. Und der Upload in Tauschbörsen? Deutscge Gerichte sagen „ja“. Ebenso wird die Kopie eines wissenschaftlichen Artikels in geringem Umfang zu Zwecken der Forschung/Lehre (siehe dazu §52a UrhG als Beispiel) schwerlich als „gewerblich“ zu bezeichnen sein.
Also: Wurden die Forderungen der Freiheit von Forschung, Lehre und Wissenschaft in ACTA nicht berücksichtigt? Der Laie wird die ausdrückliche Erwähnung vermissen, ja. Tatsächlich aber ist es nichts besonderes, Ausnahmen nicht ausdrücklich zu benennen (ich empfehle den Blick in §106 UrhG). Zumal hier „gewerblich“ als Abgrenzungskriterium nun einmal ausdrücklich benannt wurde.
Fazit
Es wird nicht besser, wenn man schlechte Argumente einfach nur wiederholt – die Mär von der Strafbarkeit durch ACTA ist und bleibt in weiten Teilen unvertretbar, gerade mit Blick auf unser nationales Recht und die hier inzwischen sehr differenzierte Rechtsprechung. Leider muss ich an der Stelle in dem verlinkten Artikel dann auch andere Sätze lesen, wie etwa
Es gibt viele weitere Bereiche, wo die Vereinbarkeit mit EU-Recht fragwürdig ist – zum Beispiel der fast unbegrenzte Schadenersatzanspruch, der im Rahmen des ACTA-Abkommens auf Basis von Verkaufspreisen anstatt auf Basis des tatsächlich entstandenen Schadens berechnet werden kann. Die Studie der DG Expo des EU-Parlaments empfiehlt, diesen Teil durch den EuGH prüfen zu lassen (S.67).
Wer das deutsche Schadensersatzrecht bei Urheberrechtsverletzungen kennt kann nur staunen, welche Probleme hier konstruiert werden. Noch einmal: Gerade weil der konkret entstandene Schaden häufig nicht nachweisbar ist, hat die deutsche Rechtsprechung den Ersatz im Zuge der Lizenzanalogie entwickelt. Die Ungläubigen googlen bitte nach „BGH, I ZR 169/07„.
Daher bleibt festzuhalten: Die EU wird allein wegen ACTA keine Strafen einführen. Und wenn Sie Richtlinien einführt, dann werden die inhaltlich höchstwahrscheinlich so ausgestaltet sein, dass der deutsche Gesetzgeber nicht handeln muss. Ja: Wir brauchen eine Diskussion über das aktuelle Urheberrecht und die Zukunft, die wir in diesem Bereich beschreiten wollen. Und ja: ACTA ist ein geeigneter Anlass, den aktuellen Zeitgeist kritisch zu hinterfragen und die Verantwortung der Rechteinhaber einzufordern. Aber nein: Man muss immer noch nicht so tun, als würde mit der Ratifikation von ACTA sowohl in der EU als auch in Deutschland jede Kopie ein Verbrechen sein.
Zum Thema:
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