Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz (VGH B 57/21) konnte sich zur Frage äußern, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch auf Zugang zu Informationen besteht, die nicht Teil der Akte geworden sind. Theoretisch würde das Akteneinsichtsgesuch leer laufen, wenn die Behörden durch die Hinzunahme zur Akte frei entscheiden könnten, was man erhält und was nicht.
Hintergrund dieser Entscheidung war eine Ordnungswidrigkeit, hier gilt: Gelangt im Ordnungswidrigkeitenverfahren ein standardisiertes Messverfahren zur Anwendung, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren im Grundsatz mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung der Anspruch des Betroffenen, Kenntnis auch von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden und weiterhin vorhanden sind, aber nicht zur Bußgeldakte genommen wurden.
Hinweis: Auch wenn es im Kern ständig um OWIs geht, lassen sich hier gerade für Strafverfahren weitere Rückschlüsse ziehen – dabei zeigt sich ein Wandel des Verständnisses davon ab, was das Akteneinsichtsrecht angeht. Während dies früher sehr eng verstanden wurde, ist auf Ebene der Verfassungsgerichte eine zunehmende Ausweitung zu verstehen. Die Frage, des „ob“ und „was“ zum Umfang der Ermittlungsakte ist mit dem Wunsch der Verfassungsgerichte ausdrücklich überprüfbar. Die Praxis aus vielen Wirtschaftsstrafverfahren, schriftliche Dokumente als „Asservate“ zu führen, sollte mit Blick auf die Aktenordnungen (siehe nur §4 I S.1 AO NRW) immer hinterfragt werden.
Waffengleichheit durch Zugang zu Informationen
Aus Sicht des Verfassungsgerichtshofes wird durch den Zugang dem Gedanken der „Waffengleichheit“ Rechnung getragen und die Legitimität der Anerkennung standardisierter
Messverfahren steht in engem Zusammenhang mit der Anerkennung von Einsichts- und Überprüfungsrechten der Verteidigung. Aber: Dieser Anspruch gilt gerade nicht
unbveschränkt. Gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist aus Sicht des VGH eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten:
Andernfalls bestünde die Gefahr der uferlosen Ausforschung, von erheblichen Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs (zum Ganzen VerfGH RP, Beschluss vom 12. Dezember 2021 – VGH B 46/21 –, AS 48, 403 [413 f.]; Beschluss vom 22. Juli 2022 – VGH B 30/21 –, juris Rn. 31; BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 –, juris Rn. 56).
Voraussetzung des Anspruchs auf Zugang zu den Informationen
Ein Anspruch auf Zugang zu den außerhalb der Bußgeldakte befindlichen Informationen hat daher mit dem VGH gewisse Voraussetzungen, die einzuhalten sind.
Als förmliche Voraussetzung formuliert der VGH, unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG, dass
- die begehrten Informationen hinreichend konkret benannt werden, wobei unter Umständen eine verständige Auslegung mit Blick auf das konkrete Einsichtsbegehren des Betroffenen vorzunehmen ist (im Rahmen des Zumutbaren);
- das Verfahren nicht durch unklare Anträge unangemessen zu verzögern ist (dies mit Blick auf die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege );
- in materieller Hinsicht der Anspruch auf Informationszugang zu den nicht zur Bußgeldakte gelangten Informationen, einen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf sowie eine erkennbare Relevanz
für die Verteidigung vorweisen kann; Achtung: Ausgangspunkt ist dabei der Vortrag des Betroffenen, der einer Evidenzkontrolle standzuhalten hat! - nicht der Ausnahmefall gewichtiger verfassungsrechtlich verbürgter Interessen – wie beispielsweise die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege oder schützenswerte Interessen Dritter – gegeben ist;
Ausgewählte OLG Rechtsprechung
Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz (VGH B 19/19, dort ab Rn. 40) hat sich schon früher zu dem Thema geäußert und dabei eine Auswahl von OLG-Rechtsprechung zusammengetragen. Diese füge ich hier ein zu Recherchezwecken.
OLG Frankfurt
Gegenstand der Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 12. April 2013 – 2 Ss OWi 173/13 – war die Verfahrensrüge des dortigen Betroffenen, das Amtsgericht habe die Bedienungsanleitung des verwendeten Messgerätes trotz entsprechenden Antrags nicht beigezogen und dem Verteidiger zur Verfügung gestellt. In seiner Begründung differenziert das Oberlandesgericht Frankfurt danach, ob sich die Bedienungsanleitung bereits bei der Gerichtsakte befinde. Sei dies der Fall, bestehe ein umfassendes Akteneinsichtsrecht gemäß § 46 Abs. 1 OWiG, 147 StPO. Handele es sich bei der Bedienungsanleitung hingegen nicht um einen Aktenbestandteil, sei das Gericht grundsätzlich nicht verpflichtet, derartige Unterlagen vom Hersteller oder der Polizei auf Antrag der Verteidigung beizuziehen. Lehne das Tatgericht einen pauschalen Antrag auf Beiziehung ab, begründe dies in der Regel keinen Verstoß gegen den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 8 StPO (unzulässige Beschränkung der Verteidigung). Abstrakten Anträgen, die erst auf die Ermittlung möglicher Fehler gerichtet seien, habe der Tatrichter ohne konkrete tatsachenbelegte Anhaltspunkte nicht nachzugehen (OLG Frankfurt, a.a.O., juris Rn. 5 f., 11). Auf die vorstehenden Ausführungen kam es allerdings nicht entscheidungstragend an, da die Verfahrensrüge nach Auffassung des Oberlandesgerichts Frankfurt schon nicht den formalen Voraussetzungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO (in Verbindung mit § 79 Abs. 3 OWiG) genügte.
Kammergericht
Das Kammergericht gab in seinem Beschluss vom 7. Januar 2013 – 3 Ws (B) 596/12 – der Rechtsbeschwerde eines zu einer Geldbuße wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilten Betroffenen statt und hob das der Verurteilung zugrundeliegende Urteil des Amtsgerichts auf. Das Amtsgericht hatte in dem Verfahren auf einen entsprechenden Akteneinsichtsantrag des Verteidigers hin die Bedienungsanleitung bei dem Polizeipräsidium angefordert. Diese wurde daraufhin zwar dem Gericht übersandt; allerdings war dem Dokument ein Vorblatt beigefügt, in dem auf das „Urheberrecht“ hingewiesen wurde und zudem angemerkt war, dass die Bedienungsanleitung „nur für dienstliche Zwecke“ zur Verfügung gestellt werde (KG, a.a.O., juris Rn. 3). Im Hauptverhandlungstermin beantragte der Verteidiger die Aussetzung des Verfahrens zum Zwecke der Gewährung von Akteneinsicht in die Bedienungsanleitung des Messgerätes. Diesen Antrag lehnte das Amtsgericht mit der Begründung ab, eine Akteneinsicht sei zur Sachaufklärung nicht erforderlich, da es sich um ein standardisiertes Messverfahren handele. Zudem bestünden urheberrechtliche Bedenken an einer Aushändigung (KG, a.a.O., juris Rn. 3). Die auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie ein faires Verfahren gestützte Rechtsbeschwerde hatte Erfolg. Nach Auffassung des Kammergerichts ergebe sich im konkret zu entscheidenden Fall das Recht auf Akteneinsicht in bereits bei der Gerichtsakte befindliche Unterlagen aus §§ 46 Abs. 1 OWiG, 147 StPO. Entsprechendes gelte aber auch dann, wenn die Bedienungsanleitung nicht Bestandteil der Gerichtsakte sei. In diesem Fall sei sie auf ein entsprechendes Akteneinsichtsgesuch des Verteidigers zu den Akten zu nehmen, damit dieser sie im Rahmen der ihm zu gewährenden Akteneinsicht einsehen könne. Nur das Einsichtsrecht des Verteidigers in die Bedienungsanleitung eines Geschwindigkeitsmessgeräts ermögliche es ihm und dem Betroffenen, die Polizeibeamten, die die Messung vorgenommen hätten, als Zeugen zu der ordnungsgemäßen Durchführung der Messung zu befragen und die ordnungsgemäße Bedienung des Gerätes nachzuvollziehen und zu überprüfen (vgl. KG, a.a.O., juris Rn. 4).
OLG Naumburg
Das Oberlandesgericht Naumburg hatte in seinem Beschluss vom 5. November 2012 – 2 Ss (Bz) 100/12 – über eine unter anderem zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassene Rechtsbeschwerde – wiederum in einem Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung – zu entscheiden. In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht stellte der Verteidiger des Betroffenen einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens, da ihm bislang weder im gerichtlichen Verfahren noch im Verwaltungsverfahren vor der Bußgeldbehörde ausreichende Einsicht in die Bedienungsanleitung des Gerätes gewährt worden sei. Diesen Antrag lehnte das Amtsgericht ab und führte aus, der Verteidiger habe im Bußgeldverfahren keinen Anspruch auf Einsicht in die Bedienungsanleitung eines Messgeräts. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Naumburg steht der Verteidigung ein Recht auf umfassende Einsicht in die Bedienungsanleitung eines Geschwindigkeitsmessgerätes zu. Der Verteidiger habe im Rahmen eines Bußgeldverfahrens, das eine Geschwindigkeitsüberschreitung betreffe, das Recht auf Akteneinsicht in alle Unterlagen, die auch dem Sachverständigen zur Verfügung gestellt würden. Dies folge unter anderem aus der Gewährleistung eines fairen Verfahrens. Ohne Akteneinsicht in dem genannten Umfang bestehe zwischen Betroffenem und der Ermittlungsbehörde keine Waffengleichheit, wenn die Ermittlungsbehörde einen Wissensvorsprung dadurch erlange, dass sie maßgebliche Unterlagen zurückhalte und dem Betroffenen deren Kenntnisnahme verweigere. Ohne Kenntnis der Bedienungsanleitung könne der Verteidiger zum einen nicht überprüfen, ob und inwieweit die Beantwortung der zur Bedienungsanleitung und den technischen Grundlagen des Messgerätes gestellten Fragen zutreffend erfolgt sei. Zum anderen resultierten aus dem Inhalt der Bedienungsanleitung auch erst Fragen und Probleme, die es in der Hauptverhandlung oder durch ein Sachverständigengutachten aufzuklären gelte, von denen aber weder Verteidiger noch Beteiligter ohne gewährte Einsicht Kenntnis hätten (vgl. OLG Naumburg, a.a.O., juris Rn. 8 ff.).
OLG Karlsruhe
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 12. Januar 2018 – 2 Rb 8 Ss 839/17 – betraf ein Bußgeldverfahren wegen einer Abstandsunterschreitung im Straßenverkehr. Die Verteidigerin des dortigen Betroffenen hatte gegen den Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt und noch vor der Hauptverhandlung beantragt, ihr Einsicht in die Bedienungsanleitung des verwendeten Messgerätes zu gewähren. Am Tag der Hauptverhandlung beantragte sie sodann deren Aussetzung im Hinblick auf die bis dahin noch nicht gewährte Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung. Das Amtsgericht verwarf den Einspruch, nachdem weder der Betroffene noch seine Verteidigerin zum Termin erschienen waren. Das Oberlandesgericht hob auf die Rechtsbeschwerde das Urteil des Amtsgerichts wegen Versagung rechtlichen Gehörs auf, da dem Aussetzungsantrag stattzugeben gewesen sei. Der Anspruch auf ein faires Verfahren gebiete es, dem Betroffenen auf seinen Antrag hin auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Unterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötige, zur Verfügung zu stellen. Dazu gehöre in Verkehrsordnungswidrigkeitensachen auch die Bedienungsanleitung des verwendeten Messgeräts. Komme das Gericht dem trotz eines rechtzeitig gestellten Antrags nicht nach, rechtfertige dies die begehrte Aussetzung der Hauptverhandlung (vgl. OLG Karlsruhe, a.a.O., juris Rn. 13).
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