Ein jüngster Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 23. November 2023 unter dem Aktenzeichen V ZR 170/22 unterstreicht die kritische Bedeutung der Beweiserhebung und des rechtlichen Gehörs in zivilrechtlichen Verfahren. Dieses Urteil hebt die Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg auf und verweist den Fall zurück zur erneuten Prüfung.
Sachverhalt
Die Klägerin, ein Gerüstbauunternehmen, beanspruchte Schadensersatz von einem Abbruchunternehmen, der Beklagten, in Höhe von 240.665,16 €. Sie behauptete, bestimmtes Gerüstmaterial sei ihr Eigentum gewesen und unrechtmäßig von der Beklagten verschrottet worden. Die Vorinstanzen lehnten die Klage ab, da sie annahmen, dass die Klägerin ihren Eigentumsanspruch nicht hinreichend dargelegt habe.
Rechtliche Analyse
Der BGH stellte fest, dass das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) erheblich verletzt hat, indem es von einer Beweiserhebung abgesehen hatte. Der BGH betonte, dass es unzulässig sei, aufgrund von Zweifeln am Sachvortrag einer Partei von der Beweisaufnahme abzusehen, da dies einer unzulässigen vorweggenommenen Beweiswürdigung gleichkomme:
Eine Partei ist nicht gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen. Dabei entstehende Widersprüchlichkeiten im Parteivortrag können allenfalls im
Rahmen der Beweiswürdigung Beachtung finden. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots wegen vermeintlicher Widersprüche im Vortrag der beweisbelasteten Partei läuft auf eine prozessual unzulässige vorweggenommene tatrichterliche Beweiswürdigung hinaus und verstößt damit zugleich gegen Art. 103 Abs. 1 GG (…) Da die Handhabung der Substantiierungsanforderungen durch das Gericht dieselben einschneidenden Folgen hat wie die Anwendung von Präklusionsvorschriften, verletzt sie Art. 103 Abs. 1 GG bereits dann, wenn sie offenkundig unrichtig ist (…)Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Sachvortrag schlüssig und ausreichend substantiiert, wenn die vorgetragenen Tatsachen in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht zu begründen (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Oktober 2017 – V ZR 17/17, NZM 2018, 294 Rn. 10; Urteil vom 28. April 2023 – V ZR 270/21, ZfBR 2023, 562 Rn. 22).
Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann der Vortrag weiterer Einzeltatsachen nicht verlangt werden; es ist dann Sache des Tatrichters, bei der Beweisaufnahme Einzelheiten zu klären, die für ihn im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO erforderlich erscheinen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 25. September 2018, VI ZR 234/17, NJW 2019, 607 Rn. 8; Beschluss vom 20. November 2019 – VII ZR 213/18, NJW 2020, 391 Rn. 12). Für den Umfang der Darlegungslast ist der Grad der Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsschilderung ohne Bedeutung (vgl. Senat, Urteil vom 13. Dezember 2002 – V ZR 359/01, NJW-RR 2003, 491; Beschluss vom 12. Juni 2008 – V ZR 221/07, WM 2008, 2068 Rn. 7 mwN). Die Grenze zulässigen Vortrags ist erst erreicht, wenn das Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte den Vorwurf begründet, eine Behauptung sei „ins Blaue hinein“ aufgestellt, mithin aus der Luft gegriffen, und stelle sich deshalb als Rechtsmissbrauch dar (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Juni 2008, V ZR 221/07, aaO Rn. 8 f.; BGH, Urteil vom 1. Juni 2005 – XII ZR 275/02, NJW 2005, 2710, 2711).
Schlussfolgerungen
Dieser Beschluss verdeutlicht, dass das Gericht nicht ohne ausreichende Beweisaufnahme eine Entscheidung treffen darf, besonders wenn die Beweisführung entscheidend für das Verfahren sein könnte. Zudem wurde betont, dass selbst widersprüchliche Angaben einer Partei im Verlauf des Rechtsstreits im Rahmen der Beweiswürdigung und nicht bereits im Stadium der Beweisaufnahme geklärt werden sollten.
Auswirkungen für die Praxis
Für die Praxis bedeutet dieser Beschluss, dass Gerichte gehalten sind, allen relevanten Beweisanträgen nachzugehen und diese sorgfältig zu prüfen, bevor sie eine Entscheidung treffen. Dies stärkt das Recht der Parteien auf ein faires Verfahren und sicherstellt, dass alle relevanten Fakten und Beweismittel in die Entscheidungsfindung einfließen.
Fazit
Dieser Fall ist ein herausragendes Beispiel für die Notwendigkeit der Achtung des rechtlichen Gehörs und der Beweisaufnahme im gerichtlichen Verfahren. Der BGH hebt hervor, dass Gerichte verpflichtet sind, umfassend und gerecht zu ermitteln, bevor sie eine Entscheidung treffen. Dieser Grundsatz ist essentiell, um die Integrität des Rechtssystems und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz zu wahren.
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