EGMR: Verurteilung eines Journalisten durch voreingenommene Richterin verletzt Meinungsfreiheit

Im Fall „Bosev gegen Bulgarien“ (Requête no 62199/19) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 4. Juni 2024 eine Entscheidung getroffen. Diese betraf die angebliche Voreingenommenheit einer Richterin in einem Strafverfahren gegen den Journalisten Rosen Rosenov Bosev sowie die Frage, ob es ausreichende interne Rechtsmittel gab, um seine behauptete Verletzung der Meinungsfreiheit zu beheben.

Sachverhalt

Rosen Rosenov Bosev, ein bulgarischer Journalist, der für das Wochenblatt „Capital“ arbeitet, hatte mehrere kritische Artikel über eine Richterin namens P.K. verfasst. Diese Artikel thematisierten unter anderem Verzögerungen bei der Bearbeitung bestimmter Fälle, die Praxis der Richterin, Urteile rückzudatieren, und ihre angebliche Zugehörigkeit zu einem korrupten Netzwerk hochrangiger Magistraten.

Bosev wurde später wegen Verleumdung eines hochrangigen Beamten verurteilt, und das Verfahren gegen ihn wurde von eben jener Richterin P.K. geleitet. Bosev beantragte ihre Ablehnung aufgrund möglicher Befangenheit, was jedoch abgelehnt wurde.

Rechtliche Analyse

Der EGMR stellte fest, dass die Verurteilung Bosevs durch eine angeblich voreingenommene Richterin eine Verletzung von Artikel 6 § 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf ein faires Verfahren) darstellt. Die Richterin P.K. hätte sich aufgrund der bestehenden Umstände, insbesondere der von Bosev veröffentlichten kritischen Artikel, selbst ablehnen müssen. Die Ablehnung des Antrags auf Ablehnung der Richterin durch dieselbe Richterin verstärkte den Eindruck der Voreingenommenheit und beeinträchtigte das Vertrauen in die Unparteilichkeit des Verfahrens.

Ebenso befand der EGMR, dass die Verurteilung Bosevs wegen Verleumdung auch eine Verletzung von Artikel 10 der Konvention (Recht auf freie Meinungsäußerung) darstellt. Die Verurteilung wurde als unverhältnismäßige Einschränkung seiner Meinungsfreiheit angesehen, da die Äußerungen von Bosev im Rahmen seiner journalistischen Tätigkeit und im öffentlichen Interesse erfolgten. Der EGMR stellte fest, dass es keine ausreichenden Schutzmaßnahmen gegen Willkür in dem Verfahren gab und dass Bosev keine wirksamen Rechtsmittel zur Verfügung standen, um die Verletzung seiner Rechte zu beanstanden.

Urteil und Folgen

Der EGMR entschied einstimmig, dass Bulgarien die Artikel 6 § 1 und 10 der Konvention verletzt hat. Der Staat wurde verpflichtet, Bosev eine Entschädigung von insgesamt 6.524,84 EUR zu zahlen, einschließlich der Rückerstattung der verhängten Geldstrafe, Entschädigung für immaterielle Schäden und Kosten und Auslagen.

Fazit

Dieses Urteil unterstreicht die Bedeutung der richterlichen Unparteilichkeit und der Meinungsfreiheit. Es zeigt, dass journalistische Kritik an der Justiz nicht ohne Weiteres zu einer Strafverfolgung führen darf, wenn sie im Rahmen der öffentlichen Debatte und des investigativen Journalismus erfolgt. Die Entscheidung stärkt den Schutz der Meinungsfreiheit und betont die Notwendigkeit unabhängiger und unparteiischer Gerichtsverfahren.

Fachanwalt für IT-Recht Jens Ferner