Der Arbeitgeber ist nach dem Arbeitsschutzgesetz (hier: § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG) verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann:
Arbeitgeber sind nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen, für die der Gesetzgeber nicht auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG eine von den Vorgaben in Art. 3, 5 und 6 Buchst. b dieser Richtlinie abweichende Regelung getroffen hat.
Leitsatz, BAG 1 ABR 22/21
Aufgrund dieser gesetzlichen Pflicht kann der Betriebsrat desweiteren die Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung im Betrieb nicht mithilfe der Einigungsstelle erzwingen. Ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht besteht nur, wenn und soweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt ist. Das hat jetzt das Bundesarbeitsgericht (1 ABR 22/21) entschieden.
Das war geschehen
Der antragstellende Betriebsrat und die Arbeitgeberinnen, die eine vollstationäre Wohneinrichtung als gemeinsamen Betrieb unterhalten, schlossen im Jahr 2018 eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit. Zeitgleich verhandelten sie über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung.
Eine Einigung hierüber kam nicht zustande. Auf Antrag des Betriebsrats setzte das Arbeitsgericht (ArbG) eine Einigungsstelle zum Thema „Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung“ ein. Nachdem die Arbeitgeberinnen deren Zuständigkeit gerügt hatten, leitete der Betriebsrat dieses Beschlussverfahren ein. Er hat die Feststellung begehrt, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zusteht.
So entschieden die Instanzen
Das Landesarbeitsgericht hatte dem Antrag des Betriebsrats stattgegeben. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberinnen hatte vor dem BAG Erfolg. Der Betriebsrat muss in sozialen Angelegenheiten nur mitbestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht.
Bei unionsrechtskonformer Auslegung des Arbeitsschutzgesetzes (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG) ist der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Dies schließt ein – ggf. mithilfe der Einigungsstelle durch setzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus.
Die Pflicht zur Einführung der Arbeitszeiterfassung folgt dabei aus dem Arbeitsschutzgesetz:
Die Pflicht der Arbeitgeberinnen, ein System einzuführen, mit dem sämtliche Arbeitszeiten im Gemeinschaftsbetrieb erfasst werden, folgt jedoch aus § 3Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG.
Nach dieser Rahmenvorschrift (vgl. auch BAG 18. März 2014 – 1 ABR 73/12 – Rn. 23, BAGE 147, 306) hat der Arbeitgeber zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach § 3 Abs. 1 ArbSchG unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten für eine „geeignete Organisation“
zu sorgen und die „erforderlichen Mittel“ bereitzustellen. Bei unionsrechtskonformem Verständnis beinhaltet die gesetzliche Regelung auch die – grundsätzliche – Verpflichtung der Arbeitgeberinnen, ein System zur Erfassung der von ihren Arbeitnehmern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzuführen, das Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeit einschließlich der Überstunden umfasst (…)Die Pflicht eines Arbeitgebers zur Erfassung der Arbeitszeiten betrifft diejenigen Arbeitnehmer, für die der nationale Gesetzgeber nicht auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG von den Vorgaben der Art. 3, 5 und 6 Buchst. b dieser Richtlinie abgewichen ist.
BAG 1 ABR 22/21
Wie der letzte Absatz deutlich macht, sind leitende Angestellte damit ausgenommen.
Wie muss die Zeiterfassung ausgestaltet sein?
Mit den Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union ist zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer ein „objektives, verlässliches und zugängliches“ System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann (EuGH 14. Mai 2019, C-55/18).
Dabei besteht – solange vom deutschen Gesetzgeber (noch) keine konkretisierenden Regelungen getroffen wurden – ein Spielraum, in dessen Rahmen die „Form“ dieses Systems festzulegen ist. Bei ihrer Auswahl sind vor allem die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer und die
Eigenheiten des Unternehmens – insbesondere seine Größe – zu berücksichtigen.
In der Entscheidung des EUGH findet sich ein Verweis auf die Schlussanträge des Generalanwalts. Wenn man die dortigen Ausführungen hinzuzieht, kommt man zu folgenden Erkenntnissen, die das BAG nun ausdrücklich aufgreift:
- die Arbeitszeiterfassung muss nicht ausnahmslos und zwingend elektronisch erfolgen. Vielmehr können beispielsweise – je nach Tätigkeit und Unternehmen – Aufzeichnungen in Papierform genügen. es ist wohl möglich, die Aufzeichnung der betreffenden Zeiten als solche an die Arbeitnehmer zu delegieren
- Auswahl und nähere Ausgestaltung des jeweiligen Arbeitszeiterfassungssystems hat sich daran zu orientieren, dass die Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit Zielsetzungen darstellen, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen
Weitreichende Folgen
Und nun? Müssen alle Arbeitnehmer „zurück zur Stechuhr“? Da das BAG keine Gesetzgebungskompetenz hat, ergibt sich daraus zunächst kein sofortiger Handlungsbedarf der Arbeitgeber. Hier muss auf eine gesetzliche Vorgabe gewartet werden.
Bisher hat der deutsche Gesetzgeber auf die Vorgabe des EuGH noch nicht reagiert. Dies wird er aber irgendwann tun müssen. Fraglich ist dabei, wie dies umgesetzt werden kann. So sollen auch künftig flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) möglich sein. Auch darf der bürokratische Aufwand nicht zu hoch werden, um die Produktivität der Arbeitnehmer nicht einzuschränken. Fragen von Homeoffice, Überstunden, etc. sind zu beantworten bei der Frage, welche Anforderungen ein System zur Arbeitszeiterfassung erfüllen muss. Insbesondere bei biometrischen Systemen stellen sich bis heute erhebliche Probleme.
Das Bundesarbeitsministerium teilte dazu mit, dass die weitere Vorgehensweise geprüft werde. Mit schnellen Ergebnissen ist wohl vorerst nicht zu rechnen. Gleichwohl sollte sich jeder Arbeitgeber bereits jetzt Gedanken darüber machen, wie er eine entsprechende Dokumentation vornehmen könnte.
Arbeitszeiterfassung: Was ist zu tun?
Die Angst unter den kleinen Betrieben ist groß – aber zu Unrecht: Die Hauptaufgabe ist nun, dieses Thema überhaupt einmal auf dem Schirm zu haben, die eigene Praxis auf den Prüfstand zu stellen, kritische Punkte (Arbeitsweg, Dienstfahrten, Rüstzeiten) klar zu regeln und die Entwicklung durch den Gesetzgeber im Blick zu haben. Das liebste Thema „Vertrauensarbeitszeit“ wird übrigens nicht im Kern berührt, die gibt es weiterhin.
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