Erneute Zeugen-Einvernahme in Berufungsinstanz

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seiner Entscheidung vom 24. April 2024 (Aktenzeichen: VII ZR 136/23) klargestellt, dass das Berufungsgericht im Hinblick auf den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs einen im ersten Rechtszug vernommenen Zeugen erneut vernehmen muss, wenn das erstinstanzliche Gericht die Aussage nur teilweise oder gar nicht gewürdigt hat und diese nach ihrem protokollierten Inhalt mehrdeutig ist.

Sachverhalt

Die Parteien schlossen im Juli 2020 mündlich einen Vertrag über Trockenbauarbeiten und die Lieferung sowie den Einbau von Fenstern, einer Balkontür und weiteren Bauelementen. Nach Kündigung des Vertrages und weiteren Streitigkeiten erhob der Kläger Klage auf Vergütung. Das Landgericht wies die Klage ab, während das Berufungsgericht teilweise zugunsten des Klägers entschied. Die Beklagte legte daraufhin Revision ein, wobei sie unter anderem rügte, dass das Berufungsgericht die Zeugen nicht erneut vernommen habe.

Rechtliche Analyse

Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG)

Der Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs ist ein zentrales Verfahrensprinzip, das sicherstellt, dass Parteien die Möglichkeit haben, gehört zu werden und ihre Argumente und Beweise vollständig vorzutragen. Ein Verstoß gegen diesen Grundsatz liegt vor, wenn ein Gericht entscheidungserhebliche Aussagen von Zeugen nicht berücksichtigt oder anders würdigt, ohne diese erneut zu vernehmen.

Anforderungen an die erneute Vernehmung von Zeugen

Der BGH stellte klar, dass das Berufungsgericht einen im ersten Rechtszug vernommenen Zeugen erneut vernehmen muss, wenn es dessen Aussage anders verstehen oder würdigen will als die Vorinstanz, und die Aussage nach ihrem protokollierten Inhalt mehrdeutig ist. Dies ist notwendig, um die Glaubwürdigkeit und die Aussagekraft des Zeugen vollständig zu erfassen und sicherzustellen, dass keine entscheidungserheblichen Umstände unberücksichtigt bleiben.

Mehrdeutigkeit der Zeugenaussage

Im vorliegenden Fall hatte das Landgericht die Aussage des Zeugen S. nur teilweise gewürdigt und wesentliche Teile seiner protokollierten Aussage nicht berücksichtigt. Die Aussage war nach ihrem protokollierten Inhalt mehrdeutig, insbesondere hinsichtlich der Vereinbarung der Farbgebung der Fenster. Das Berufungsgericht hätte daher den Zeugen erneut vernehmen müssen, um die verbleibenden Zweifel durch Rückfragen zu klären.

Abweichende Würdigung durch das Berufungsgericht

Das Berufungsgericht hat die protokollierten Aussagen der Zeugen F., Sch. und H. anders als die Vorinstanz verstanden und gewürdigt, ohne diese erneut zu vernehmen. Dies stellt einen Verstoß gegen den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör dar, da das Berufungsgericht ohne erneute Vernehmung keine hinreichende Gewissheit über die Glaubwürdigkeit und die Richtigkeit der Aussagen der Zeugen erlangen konnte.

Fazit

Die Entscheidung des BGH verdeutlicht die Notwendigkeit einer erneuten Vernehmung von Zeugen durch das Berufungsgericht, wenn deren Aussagen im ersten Rechtszug nur teilweise oder nicht ausreichend gewürdigt wurden und nach ihrem protokollierten Inhalt mehrdeutig sind. Diese Maßnahme dient der Wahrung des rechtlichen Gehörs und stellt sicher, dass alle entscheidungserheblichen Umstände vollständig berücksichtigt werden. Die Entscheidung stärkt die Verfahrensrechte der Parteien und betont die Bedeutung einer sorgfältigen Beweiswürdigung durch die Gerichte.

Fachanwalt für IT-Recht Jens Ferner