Justiz in Deutschland abgehängt (?)

Bereits im April 2023 wurde der Abschlussbericht des „Forschungskonsortiums zur Untersuchung des „Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten“ vorgelegt. Dieser Bericht hat es in sich, denn wo es vordergründig um die Frage geht, warum immer weniger geklagt wird (was jeder forensisch tätige Anwalt mit einem milden Lächeln schnell erklären kann), geht es um eine Bestandsaufnahme der deutschen Justiz. Und auch die blumigen Worte des Berichts können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Richterschaft und Justiz in Deutschland den Anschluss verloren haben.

Was sind wesentliche Kritikpunkte

Eine sehr ausführliche Beschäftigung mit dem Thema bietet das Anwaltsblatt, wo die dortige Kollegin zum zutreffenden Fazit kommt

Die Justiz ist in einer sich fortlaufend beschleu­ni­genden, spezia­li­sierten, interna­tio­na­li­sierten und komplexen Wirklichkeit weitgehend unverändert geblieben (…) Die Justiz ist in einer sich fortlaufend beschleu­ni­genden, spezia­li­sierten, interna­tio­na­li­sierten und komplexen Wirklichkeit weitgehend unverändert geblieben. Dadurch hat sie an Attrak­tivität verloren. (…) Ein Ende dieser Entwicklung ist bisher nicht abzusehen.

Das darf nicht überraschen, inzwischen stellen sich zivilrechtliche gerichtliche Streitigkeiten als Risikofaktor dar, der vor allem durch die Faktoren unberechenbarer Ausgänge und tiefgehendem mangelnden Verständnis (heutiger) wirtschaftlicher Abläufe bei der Richterschaft gekennzeichnet sind.

Ausgeschlossene Anwälte

Aus hiesiger Sicht ist mit das größte Problem das vollkommene Fehlverständnis von Richterschaft bzw. Justiz und Gesetzgeber zur Anwaltschaft: Inzwischen ist es nach hiesiger Wahrnehmung nahezu der absolute Standardfall, dass die Anwaltschaft de facto von Gesetzgebung und Justizpflege ausgeschlossen sind: Wenn der Gesetzgeber neue Gesetze plant, wird die Justiz immer, die Anwaltschaft nur noch als Feigenblatt eingebunden; Richterschaft im Strafrecht und Staatsanwaltschaft sind teilweise so eng verbandelt, dass die vom Rechtsstaat vorgesehene Trennung von Judikative und Exekutive in erheblichen Teilen als nicht mehr funktionierend beschrieben werden kann (wobei man regelmäßig feststellt, dass die Beteiligten sich dieser dogmatischen Grundlage nicht einmal im Klaren sind, womit wir zu mangelnden Ausbildung kommen, die auch die Studie bemängelt).

Die Studie dagegen geht einen anderen Weg: Die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind, so die Studie zutreffend und ausdrücklich (S. 342), die wichtigsten Weichensteller auf dem Weg vom zivilrechtlichen Konflikt zum Gericht, denn fast 90 % aller Klagen vor dem Amtsgericht und zwangsläufig alle Klagen vor dem Landgericht werden von ihnen angestrengt. Die Bevölkerungsbefragung belegt aus Sicht der Verfasser diese Filterwirkung. Bei der Befragung von 2.269 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten kam heraus, dass rund 38 % einen Rückgang ihrer forensischen Tätigkeit in den letzten 10 Jahren feststellen. 30,7 % gaben an, heute seltener zur Klageerhebung zu raten als noch vor 10 Jahren. Als Hauptgründe gegen eine Klage wurden die Kosten (52,0 %), die Verfahrensdauer (59,9 %) und die nicht abschätzbaren Erfolgsaussichten (66,3 %) genannt. Insbesondere die Verfahrensdauer wird als wirtschaftliches Hindernis bezeichnet. Besonders gravierend wirkt sich dies bei Bauprozessen aus.

Im Ergebnis wenig überraschend (S.343): Eine wahrgenommene Entfremdung und Skepsis (z.B. gegenseitige Vorwürfe mangelnder professioneller Prozessvorbereitung) zwischen Anwaltschaft und Richterschaft zieht sich durch die Einzelinterviews mit Vertreterinnen und Vertretern beider Berufsgruppen. Das den Gerichten von der Anwaltschaft in den Anwaltsinterviews sowie in der Online-Befragung häufig vorgeworfene mangelnde Verständnis für komplexere wirtschaftliche Zusammenhänge und die mangelnde Attraktivität für internationale Streitigkeiten sind nach den durchgeführten Anwaltsinterviews, insbesondere bei höherwertigen Ansprüchen im b2b-Bereich (ab 10.000 €) von größerer Bedeutung.

Empfehlungen für die Justiz

Nach den üblichen Ausführungen, wo die anwaltliche Praxis mit professioneller Begleitung im Alltag (z.B. im Vertragswesen) bereits Streitigkeiten vermeidet, kommt man zum Kern:

Letztlich wurde in unserem Forschungsprojekt aber auch deutlich, dass viele justizielle Strukturen und Abläufe nicht dem entsprechen, was Wirtschaft und Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten an Entwicklung genommen haben. Dies betrifft insbesondere einige justizinterne Abläufe sowie die Spezialisierung und durch Erfahrung herangereifte Expertise in der Richterschaft.

Hier benötigen wir bundeseinheitliche Strukturen betreffend die Ausbildung und Fortbildung der Richterschaft sowie den richterlichen Einsatz und Verbleib in bestimmten Spruchkörpern, idealerweise entsprechend gewählten Interessenschwerpunkten. Das sollte stärker als bisher zum justiziellen Selbstverständnis gehören.

Abschlussbericht, S. 344

Auch das darf nicht überraschen: Anwälte haben de facto einen Fortbildungszwang, wer Fachanwalt ist, muss sich ohnehin zwingend fortbilden. Das kostet Geld und Zeit, kein Wunder, dass es unbeliebt ist – in der Richterschaft und der Justiz insgesamt ignoriert man dies vehement. Statt diesen Missstand, den man als solchen begreifen muss, klar anzugehen, hat man sich schon vor Jahren eine bessere Lösung überlegt: Wenn Richter Fehler machen, insbesondere wenn sie das Gesetz falsch anwenden, haften die Anwälte. Und genau hier schludert die Studie.

Unvorhersehbare Verfahren

Als Unsicherheitsfaktor wird die mangelnde Vorhersehbarkeit von Gerichtsentscheidungen genannt. Zivilprozesse führten häufig zu überraschenden Urteilen (S. 19, 311, 339). Das ist etwas, was Ihnen jeder praktische Anwalt auf Anhieb beschreiben kann, dafür braucht es keine Studie: Zivilverfahren sind nicht nur komplexer und anspruchsvoller geworden, solche Worte lenken nur vom echten Problem ab: Man weiß nie, was herauskommt. Dabei besteht ein wahrgenommener Vergleichsdruck, wobei sich die Vergleichsrate laut Studie nicht verändert hat (S. 322).

Hinweis: An der Stelle bin ich unsicher, ob die Studie die Gesamtumstände richtig berücksichtigt! Zwar ist die Vergleichsquote unverändert, gleichwohl berichten Kollegen und Kolleginnen (so auch meine Wahrnehmung!) von mehr Vergleichen und insbesondere einem krassen Vergleichsdruck, der auch mitunter als „Vergleicheritis“ bezeichnet wird. Die Studie hätte näher darauf eingehen müssen, ob die Massenverfahren hier eventuell die Zahlen verfälschen: Das was Anwälte subjektiv wahrnehmen dürfte vor allem den Individualprozessen geschuldet sein, während möglicherweise in Massenverfahren gerade nie Vergleichsbereitschaft bestehen könnte (Konjunktiv!). Sollte sich das so darstellen, wäre die subjektive Wahrnehmung keineswegs subjektiv, sondern mit einer Verschiebung durch die Massenverfahren im Gesamtbild zu erklären!

Die Unvorhersehbarkeit von Verfahren dann wiederum wird von der Studie nicht in das richtige Bild gebracht, hier liegt ein Totalversagen der Verfasser vor: Wenn ein Anwalt davon spricht und von einer Klage abrät, weil der Ausgang des Verfahrens nicht prognostizierbar ist, lässt er (oder sie) immer – es geht gar nicht anders – auch das eigene Haftungsrisiko mit einfließen. Man hätte vertieft nachfragen müssen, inwieweit sich eigene Haftungsrisiken, gerade vor dem Hintergrund der seit gut einem Jahrzehnt drastisch geänderten Rechtsprechung, hier auswirken. Tatsächlich geht diese Studie auf dieses eindeutige und selbst Laien bekannte Motiv anwaltlicher Beratung gar nicht ein, was massiv befremdet. Dies umso mehr, als dass zunehmend die Anwaltschaft aufgeschreckt ist von zunehmenden Regressforderungen der Rechtsschutzversicherer.

Fazit

Die Studie offenbart trotz viel blumiger Worte einen deutlichen Missstand in der Justiz, auch wenn hier am Ende nichts herauskam, was man nicht unter einer zufälligen Stichprobe erfahrener Anwälte mit zivilprozessualer Erfahrung erfahren hätte. Wer Unternehmen im nationalen Kontext berät, weiß längst: Es ist den Mandanten recht egal, ob die Verfahren auf Englisch geführt werden; es ist lächerlich, wie sich die deutsche Justiz immer noch gegen eAkte und Videoverhandlung sperrt; und es macht fassungslos, wenn man als Mandant merkt, wie es läuft, wenn ein gestandener Fachanwalt in einem Spezialgebiet auf einen Richter im Gerichtssaal trifft.

Das ist hart und tut weh, aber es wird Zeit, es offener anzugehen und anzusprechen, denn: Die Wege aus der Justiz-Misere sind einfach. Qualitätskontrollen und zwingende Fortbildungen, Einstellungen (wie im Ausland üblich!) von neuen Richtern erst, wenn sie (wirtschaftliche) Lebenserfahrung gesammelt haben – und zugleich eine Stärkung des Selbstverständnisses der Richterschaft speziell im Strafprozess, die im Vergleich zu ihren angelsächsischen Kollegen allzu oft am Rockzipfel der Exekutive hängen.

Am Ende aber wird der Gesetzgeber aufwachen müssen, der über die letzten 20 Jahre den anwaltlichen Berufsstand – wenn man von Großkanzleien absieht – zunehmend torpediert hat. Eine viel zu hohe Kostenschere und zu wenig staatliche Unterstützung für Normalverdiener haben im Doppelpakt dafür gesorgt, dass das Sterben der Anwaltskanzleien längst begonnen hat. Diese Studie aus dem April 2023 ist bereits vollkommen untergegangen, dabei sollte man festhalten: Die Justiz hat den Anschluss verloren, die Anwaltschaft steht immer eingeschränkter für die Bevölkerung zur Verfügung und mit jedem Monat, der vergeht, wird der Zustand immer schlimmer.

Fachanwalt für IT-Recht Jens Ferner