Recht auf Unerreichbarkeit des Arbeitnehmers

Dass es keine Verpflichtung eines Mitarbeiters gibt, in seiner Freizeit eine Mitteilung des Arbeitgebers (per Telefon oder SMS) entgegenzunehmen, hat das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein (1 Sa 39 öD/22) klargestellt. Das BAG hat sich inzwischen anders postiert!


Das LAG arbeitet heraus, dass einem Arbeitnehmer in seiner Freizeit ein Recht auf Unerreichbarkeit zusteht:

Freizeit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass Arbeitnehmer/innen in diesem Zeitraum den Arbeitgeber/innen nicht zur Verfügung stehen müssen und selbstbestimmt entscheiden können, wie und wo sie diese Freizeit verbringen. In dieser Zeit müssen sie gerade nicht fremdnützig tätig sein und sind nicht Bestandteil einer fremdbestimmten arbeitsrechtlichen Organisationseinheit und fungieren nicht als Arbeitskraft.

Es gehört zu den vornehmsten Persönlichkeitsrechten, dass ein Mensch selbst entscheidet, für wen er/sie in dieser Zeit erreichbar sein will oder nicht (LAG Thüringen, Urteil vom 16.05.2018 – 6 Sa 442/17 – Juris, Rn. 43). Ob der Kläger einer Weisung, die ihm in seiner Freizeit zur Kenntnis gelangt ist, folgen müsste, braucht hier nicht entschieden zu werden.

Lesen von Arbeitsnachrichten ist Arbeit

Das Gericht stellt als Erstes vollkommen zu Recht klar, dass ein Lesen von Mitteilungen des Arbeitgebers Arbeitszeit ist. Ein Arbeitgeber, der sich im Urlaub oder der Freizeit aufdrängt durch Nachrichten verlangt damit zugleich vom Arbeitnehmer, so das LAG, seine Freizeit zu unterbrechen:

Beim Lesen einer SMS, mit der der Arbeitgeber sein Direktionsrecht im Hinblick auf Zeit und Ort der Arbeitsausübung konkretisiert, handelt es sich um Arbeitszeit. Der Kläger erbringt mit dem Lesen eine Arbeitsleistung.

Daran ändert es auch nichts, dass ein nur zeitlich minimaler Aufwand, der mit dem Aufrufen und Lesen einer SMS verbunden ist, im Raum steht:

Arbeit wird nicht deswegen zur Freizeit, weil sie nur in zeitlich ganz geringfügigem Umfang anfällt. Das Recht auf Nichterreichbarkeit dient neben der Gewährleistung des Gesundheitsschutzes des Arbeitnehmers durch Gewährleistung ausreichender Ruhezeiten (§ 5 Abs. 1 ArbZG) auch dem Persönlichkeitsschutz (…). Es ist also auch dann zu beachten, wenn – wie hier – die Ruhezeit nach § 5 Abs. 1 Arbeitszeitgesetz durch die Arbeitsaufnahme nicht unterbrochen wird, weil diese zum Zeitpunkt der Dienstplanänderung bereits abgelaufen war (…)

Folge: Zugang erst mit Dienstbeginn

Im Kern geht es um simples BGB AT, was in der heutigen Zeit bei digitalen Nachrichten gerne vergessen wird: Eine empfangsbedürftige Willenserklärung wird gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB mit ihrem Zugang wirksam.

Zugegangen ist eine Willenserklärung, wenn sie so in den Bereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen. Zum Bereich des Empfängers gehören auch die von ihm zur Entgegennahme von Erklärungen bereitgehaltenen Einrichtungen, wie Briefkasten, Postfach, E-Mail-Postfach oder Anrufbeantworter. Vollendet ist der Zugang aber erst, wenn die Kenntnisnahme durch den Empfänger möglich und nach der Verkehrsanschauung zu erwarten ist. Wie oben dargelegt, ist dies nicht anzunehmen, nur weil faktisch etwas übermittelt wurde – ein Klassiker aus dem ersten Jurasemester.

Das Fazit des LAG: Nimmt der Arbeitnehmer eine Information (hier über eine Dienstplanänderung) nicht zur Kenntnis, geht ihm diese erst bei Dienstbeginn zu.

Fazit

Moderne Messenger und auch aufgedrängte SMS haben einen Nachteil: Wenn man das Smartphone nicht in den Flugmodus versetzt, gibt es kein „nicht erreichbar“. Die psychische Last und die stete Unhöflichkeit anderer Menschen, inzwischen ohne Rücksicht auf Uhrzeit und Freizeit Nachrichten zu senden, tut nicht gut – zumindest im Arbeitsrecht haben Arbeitgeber ein erhebliches Risiko, wenn sie außerhalb der Arbeitszeit glauben Ansprüche stellen zu können. Arbeitnehmer jedenfalls müssen nichts zur Kenntnis nehmen oder reagieren – sinnvoll mag auch hier der Rat sein, ein privates Smartphone mit eigener Nummer nur für das unmittelbare private Umfeld zu haben, um das „offizielle“ im Urlaub einfach auszuschalten.

Die Entscheidung ist richtig und kann verallgemeinert werden, die Grundsätze sind „uralt“ und im BGB gefestigt: Wer sich rund um die Uhr erreichbar macht, setzt sich unnötigem Druck aus. Digitale Übersendungen zur Unzeit sind vielleicht faktisch da – juristisch aber erst, wenn der Verkehr auch mit einem Lesen rechnet. Es würde aber auch den Sendern guttun, wieder ruhiger zu werden und Nachrichten geplant zu versenden. Dies würde manchen Streit schon vor dem Entstehen verhindern.

Fachanwalt für IT-Recht Jens Ferner