Verletzung der nachwirkenden gesellschafterlichen Treuepflicht durch den ausgeschiedenen Mitgesellschafter einer Zwei-Personen-GmbH

Das Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt (2 U 143/21) hat entschieden, dass ein aus einer Zwei-Personen-GmbH ausgeschiedener Mitgesellschafter gegen seine nachwirkende mitgliedschaftliche Treuepflicht verstößt, wenn er die von ihm für eine Kundin der GmbH übernommene Projektleitung für eine Softwareentwicklung in agiler Arbeitsweise ohne Zustimmung der Gesellschaft in seinem neuen beruflichen Tätigkeitsfeld fortsetzt.

Hinweis: Die Entscheidung wurde von RA JF besprochen im jurisPR-ITR 16/2023 Anm. 6

Zwar ist im Gesellschaftsrecht die mitgliedschaftliche Treuepflicht als Hauptleistungspflicht des Gesellschafters gegenüber der Gesellschaft allgemein anerkannt. Diese Treuepflicht knüpft dogmatisch daran an, dass ein Gesellschafter während seiner Mitgliedschaft auch ohne ausdrückliche gesellschaftsvertragliche Regelung den Interessen der Gesellschaft den Vorrang einzuräumen hat. Die so umschriebene Treuepflicht besteht zwar grundsätzlich nur bis zum Ausscheiden des Gesellschafters, darüber hinaus kommen aber auch nachwirkende Treuepflichten, insbesondere Unterlassungs- und Loyalitätspflichten in Betracht, wie das OLG ausführt. Insbesondere darf der Gesellschafter konkrete Geschäftschancen der GmbH nicht auf sich selbst oder auf Dritte, an denen er beteiligt ist, umlenken.

Die Treuepflicht im Bereich konkreter Geschäftschancen ist von einem Wettbewerbsverbot abzugrenzen; es handelt sich um nebeneinander stehende Institute bzw. zwei eigenständige Ausprägungen der Treuepflicht. Während das – regelmäßig vertraglich zu vereinbarende – Wettbewerbsverbot alle Geschäftschancen im Tätigkeitsbereich der GmbH erfasst und ohne finanzielle Ausgleichsregelung grundsätzlich nur bis zum tatsächlichen Ausscheiden aus der Gesellschaft gilt, geht es bei der aus der sog. Geschäftschancenlehre abgeleiteten Pflicht aus §§ 705, 242 BGB um die Unterlassung der Wahrnehmung einer Geschäftschance, die der GmbH bereits in bestimmter Weise „konkretisiert“ zuzurechnen ist. Dies war hier der Fall:

Eine sog. subjektive Geschäftschance lag hier darin, dass die Klägerin mit der Kundin bereits wirksam einen Vertrag über die Durchführung des Geschäfts geschlossen hatte (vgl. auch Fleischer WM 2003, 1045, 1055 m.w.N.). Die Kundin war durch einen mit Ausschließlichkeitswirkung versehenen Vertrag an die Klägerin gebunden, die von ihr benötigte Softwarelösung von dieser entwickeln zu lassen und zum Zwecke einer Softwareentwicklung in agiler Arbeitsweise an deren Tätigkeit aktiv mitzuwirken.

Der Bewertung dieser Vertragsbeziehung als konkrete Geschäftschance steht nicht entgegen, dass das Anstellungsverhältnis des Beklagten bei der Klägerin als deren Projektleiter der Softwareentwicklung zum 31.01.2016 endete, denn der Vertrag sah eine personengebundene Leistungserbringung nicht vor.

Die Geschäftsbeziehung umfasste eine konkrete Umsatzerwartung der Klägerin, wie sich aus dem Vertrag zwischen der Klägerin und der Kundin selbst ergibt.

Der Beklagte verletzte seine mitgliedschaftliche Treue- und Loyalitätspflicht selbst dann, wenn der Senat den diesbezüglichen Vortrag der Beklagten als wahr unterstellt.

Denn selbst dann, wenn die Kundin ab Februar 2016 – nach dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses des Beklagten bei der Klägerin – an den Beklagten als federführenden Mitarbeiter der D. UG herangetreten und diesen um Fortführung der bereits bei der Klägerin begonnenen Softwareentwicklung für seinen neuen Arbeitgeber ersucht hätte, hätte es dem Beklagten zumindest oblegen, einerseits die Kundin über seine Loyalitätsverpflichtung gegenüber der Klägerin zu informieren und andererseits vor allem die Klägerin unverzüglich hierüber zu informieren und ihr den Vorrang bei der Abwicklung dieses konkreten Geschäfts einzuräumen. Ob die Klägerin ihrerseits in der Lage und insbesondere personell ausreichend leistungsfähig gewesen wäre, den Auftrag abzuwickeln, war jedenfalls nicht vom Beklagten zu beurteilen, sondern primär von der Klägerin und u.U. von der Kundin.

Die Pflichtverletzung ist nicht etwa dadurch entfallen, dass das Verhalten der Klägerin nach der Kenntniserlangung von der – aus ihrer Sicht als „Umleitung“ des Geschäfts empfundenen – Abwicklung des Entwicklungsauftrags durch die D. UG als ein konkludentes Einverständnis der Klägerin umzudeuten wäre. Die Klägerin kommunizierte zunächst ausschließlich mit der Kundin. Im Rechtsverhältnis zwischen der Klägerin und der Kundin kam es vordergründig auf die Klärung der von der Klägerin gestellten Fragen an, einerseits, ob eine weitere Vorhaltung von Kapazitäten für diesen Entwicklungsauftrag erforderlich sei oder der Auftrag entzogen werde, und andererseits, ob der neue Auftragnehmer angesichts der Übernahme des Entwicklungsauftrags auch die Gewährleistungspflichten vollständig übernehme. Fragen einer Treuepflichtverletzung des Beklagten gegenüber der Klägerin waren in diesem Vertragsverhältnis nicht zu erörtern. Da der Kundin als Bestellerin ein jederzeitiges freies Kündigungsrecht zustand und der Klägerin ohne eine Mitwirkung der Kundin eine Softwareentwicklung in agiler Arbeitsweise nicht möglich gewesen wäre, wäre ein Insistieren auf Vertragserfüllung nicht zielführend gewesen. Dies war von der Klägerin dann auch nicht unter dem Gesichtspunkt zu erwarten, den Anschein eines Einverständnisses zu vermeiden. Im Verhältnis zum Beklagten nahm die Klägerin keine Äußerung vor, welche auf eine Billigung von dessen Verhalten hindeutete.

Das pflichtwidrige Verhalten des Beklagten war auch ursächlich für den Verlust der Geschäftschance bei der Klägerin. Der Senat hat keine Zweifel daran, dass die D. UG den Entwicklungsauftrag nicht übernommen hätte, wenn der Beklagte seine Mitarbeit an der Softwareentwicklung für diese Kundin wegen fortbestehender mitgliedschaftlicher Treuepflichten gegenüber der Klägerin verweigert hätte. Für diesen Fall hätte die Klägerin ihre Chance auf Realisierung der mit der Kundin vertraglich vereinbarten Vergütung behalten.

Fachanwalt für IT-Recht Jens Ferner