Auslegung prozessualer Willenserklärungen

In einer aktuellen Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm (24 U 168/16) wurde erneut die Bedeutung der Auslegung prozessualer Willenserklärungen hervorgehoben. Die Kernfrage dreht sich um die Interpretation der wahren Absichten der Parteien im Rahmen von Prozesshandlungen. Diese Entscheidung beleuchtet nicht nur die rechtlichen Feinheiten des Prozessrechts, sondern betont auch die Notwendigkeit einer gerechten und zweckmäßigen Handhabung rechtlicher Auseinandersetzungen.

Sachverhalt

Im vorliegenden Fall war strittig, wie eine Prozesshandlung einer Partei auszulegen ist, insbesondere in Bezug darauf, was diese Partei vernünftigerweise mit ihrer Handlung beabsichtigt haben könnte. Dabei geht es vor allem um die Auslegung der Willenserklärungen innerhalb des rechtlichen Rahmens, der sich aus den vorgetragenen Umständen und der Gesamtheit der Prozessführung ergibt.

Rechtliche Analyse

Das OLG Hamm stellt klar, dass die Auslegung einer Willenserklärung im Prozessrecht nicht starr am buchstäblichen Sinn der Erklärung haften darf. Vielmehr ist es erforderlich, den wirklichen Willen der Partei zu erforschen und im Zweifel so auszulegen, dass die Interpretation den Maßstäben der Rechtsordnung entspricht und der wohlverstandenen Interessenlage der Partei gerecht wird:

Zwar hat der Kläger in der Klageschrift ausdrücklich die Feststellung begehrt, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm seinen „weiteren zukünftigen immateriellen Schaden“ zu ersetzen und der Senat darf sich nicht über einen eindeutigen Antrag hinwegsetzen (vgl. Feskorn in: Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Auflage 2022, § 308 ZPO Rn. 2). Indes darf die Auslegung auch im Prozessrecht nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks haften, sondern hat den wirklichen Willen der Partei zu erforschen; im Zweifel ist zugunsten einer Partei davon auszugehen, dass sie mit ihrer Prozesshandlung das bezweckt, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und ihrer wohlverstandenen Interessenlage entspricht (vgl. BGH, Beschluss vom 27. August 2019 – VI ZB 32/18 – zitiert nach juris; BGH, Urteil vom 2. Februar 2017 – VII ZR 261/14 – zitiert nach juris; BGH, Urteil vom 9. Juni 2016 – IX ZR 314/14 – zitiert nach juris; BGH, Urteil vom 1. August 2013 – VII ZR 268/11 – zitiert nach juris; BGH, Urteil vom 26. Mai 2009 – VI ZR 174/08 – zitiert nach juris; BGH, Urteil vom 1. Dezember 1997 – II ZR 312/96 – zitiert nach juris; Becker-Eberhard, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 253 BGB Rn. 25).

Deshalb ist ein Klageantrag nicht nach seinem Wortlaut allein, sondern nach seinem erkennbaren Sinn auszulegen (vgl. BGH, Beschluss vom 27. August 2019 – VI ZB 32/18 – zitiert nach juris).

Der Kläger hat in seiner Klageschrift deutlich gemacht, dass er eine Entschädigung auch für bereits seinerzeit behauptete Beeinträchtigungen verlangen will. Auch das Landgericht hat – ohne einen entsprechenden Hinweis zu erteilen – antragsgemäß tenoriert und zugleich in den Gründen zur Zulässigkeit der Klage ausgeführt, dass dem Kläger ausnahmsweise gestattet sei, „das Schmerzensgeldbegehren zum Gegenstand einer einheitlichen Feststellungsklage“ (S. 7 LGU) zu machen, so dass es ebenfalls von einer umfassend begehrten Feststellung ausgegangen ist. Zudem hat es zur Begründetheit der Klage ausgeführt, dass „sämtliche Schäden, sowohl immaterieller, als auch materieller Art…dem Unfallgegner auch objektiv zuzurechnen“ seien (S. 13 LGU). Damit hat es deutlich gemacht, dass es ebenfalls davon ausgegangen ist, dass der Feststellungsantrag umfassend gestellt worden ist.

Eine Auslegung kommt zwar dann nicht in Betracht, wenn die Partei den Hinweis des Gerichts auf eine für erforderlich gehaltene Anpassung der Anträge missachtet, so dass sie sich an ihren Anträgen festhalten lassen muss (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 1998 – XI ZR 72/97 – zitiert nach juris). Vorliegend hat der Kläger indes nach in der mündlichen Verhandlung vom 16.03.2023 erteiltem Hinweis des Senats in der mündlichen Verhandlung vom 17.08.2023 (Bl. 2090 d.A.) ausdrücklich klargestellt, dass er die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten hinsichtlich des gesamten immateriellen Schadens – mit Ausnahme der als Schmerzensgeld verrechneten 750,00 € – begehrt.

Diese Herangehensweise ist insbesondere relevant, um zu verhindern, dass die formale Auslegung von Erklärungen zu ungerechten Ergebnissen führt. Das Gericht betont, dass im Zweifel zugunsten einer Auslegung entschieden werden sollte, die eine sinnvolle und gerechte Lösung im Einklang mit den Intentionen der betroffenen Partei fördert.

Fazit und Auswirkungen

Die Entscheidung des OLG Hamm unterstreicht die Bedeutung einer flexiblen und interessengerechten Rechtsprechung. Dieser Ansatz dient nicht nur der Gerechtigkeit in einzelnen Fällen, sondern stärkt auch das Vertrauen in das Rechtssystem als ein Medium, das über formale Kriterien hinaus den tatsächlichen Intentionen und gerechten Anliegen der Parteien Raum gibt.

Für Anwälte bedeutet dies, dass sie in ihrer Prozessführung nicht nur auf den Wortlaut ihrer Erklärungen achten, sondern auch deren vernünftige und interessengerechte Auslegung im Blick haben müssen. Diese Entscheidung kann daher weitreichende Folgen für die Prozesspraxis in Deutschland haben.

Fachanwalt für IT-Recht Jens Ferner