Auch wenn über Verfügungsanträge in Äußerungssachen wegen der Eilbedürftigkeit nicht selten zunächst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden muss, berechtigt dies das Gericht mit inzwischen gefestigter Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts nicht, die Gegenpartei bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag aus dem Verfahren auszuschließen.
Eine stattgebende Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite Gelegenheit hatte, auf das Vorbringen in dem Antrag und in weiteren Schriftsätzen an das Gericht zu erwidern. Nunmehr konnte das BVerfG (1 BvR 718/23) nachlegen.
Geringer Spielraum für Gerichte
Dabei ist es mit dem BVerfG nicht zu beanstanden, wenn das Gericht im Eilverfahren auch die Möglichkeiten der Gegenseite berücksichtigt, sich vorprozessual zu dem Verfügungsantrag zu äußern, wenn sichergestellt ist, dass diese Äußerungen dem Gericht vollständig vorliegen. Insoweit kann auf die Möglichkeit der Erwiderung auf eine dem Verfügungsverfahren vorausgehende Abmahnung abgestellt werden. Dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit genügt die Möglichkeit der Erwiderung auf eine Abmahnung allerdings nur dann, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:
Der Verfügungsantrag muss nach der Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht werden; die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung müssen mit dem bei Gericht geltend gemachten Unterlassungsanspruch identisch sein; der Antragsteller muss ein etwaiges Ablehnungsschreiben des Antragsgegners zusammen mit der Antragsschrift bei Gericht einreichen. Demgegenüber ist dem Antragsgegner rechtliches Gehör zu gewähren, wenn er nicht ordnungsgemäß abgemahnt wurde oder der Antrag vor Gericht anders als in der Abmahnung oder mit ergänzendem Vortrag begründet wird.
Enge Grenzen für den Verzicht auf rechtliches Gehör
Um der herausragenden Bedeutung der prozessualen Waffengleichheit Rechnung zu tragen, sind die Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise von einer Anhörung des Antragsgegners abgesehen werden kann, mit dem BVerfG ausdrücklich eng begrenzt. So wird eine besondere Eilbedürftigkeit, die eine Anhörung des Antragsgegners ausnahmsweise entbehrlich macht, in äußerungsrechtlichen Fallkonstellationen in der Regel zu verneinen sein, wenn der Antragsteller zwischen dem Ablauf der außergerichtlich eingeräumten Äußerungsfrist und der gerichtlichen Antragstellung ein Vielfaches der Zeit verstreichen lässt, die er dem Antragsgegner als außergerichtliche Frist eingeräumt hat.
An einer inhaltlich gleichwertigen Gegendarstellung wird es regelmäßig auch dann fehlen, wenn der Klageanspruch erstmals im gerichtlichen Verfahren durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung glaubhaft gemacht wird. Denn soweit ein ohne Glaubhaftmachung angekündigter Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung nach § 936 ZPO i. V. m. § 922 Abs. 2 ZPO keine Aussicht auf Erfolg hat, muss sich der Antragsgegner ungleich weniger zu einer Stellungnahme veranlasst sehen als durch eine außergerichtliche Abmahnung, die erkennbar bereits die prozessualen Voraussetzungen erfüllt. Schließlich ist das Erfordernis, ein etwaiges Ablehnungsschreiben des Antragsgegners zusammen mit der Antragsschrift dem Gericht vorzulegen, weit zu verstehen und erfasst daher jede – auch automatisierte – Stellungnahme des Antragsgegners, die für die sachliche Beurteilung des Antrags oder auch nur für die Verfahrensführung des Gerichts von Bedeutung ist.
Fazit des BVerfG
Eine ohne Anhörung des Antragsgegners zu dessen Nachteil ergangene Entscheidung muss erkennen lassen, dass sich das Gericht des Ausnahmecharakters seiner Verfahrensführung bewusst war. Insbesondere dürfen mildere Mittel nicht zur Verfügung gestanden haben. Dies setzt in der Regel voraus, dass es auch nicht möglich war, dem Antragsgegner telefonisch, per E-Mail oder per Telefax Gelegenheit zu geben, den Vortrag des Antragstellers zur Kenntnis zu nehmen und – gegebenenfalls auch kurzfristig – zu erwidern.
Eine Entscheidung, die auch hiervon absieht, wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen im äußerungsrechtlichen Eilverfahren nur in Ausnahmefällen genügen, so das BVerfG. Unzulässig ist es jedenfalls, wegen einer möglicherweise befürchteten Verzögerung durch die Anhörung des Antragsgegners oder wegen einer durch die Stellungnahme erforderlichen arbeitsintensiven Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Antragsgegners bereits in einem frühen Verfahrensstadium gänzlich von einer Beteiligung des Gegners abzusehen und ihn stattdessen bis zum Zeitpunkt der auf den Widerspruch anberaumten mündlichen Verhandlung mit einem einseitig erwirkten gerichtlichen Unterlassungstitel zu belasten.
Update: Dringlichkeit ist festzustellen
Das BVerfG (1 BvR 1011/23) führte später noch aus:
ln zeitlicher Hinsicht ausgeführt hat das Landgericht a[[ein, weshalb es einen Verfügungsgrund nach §935 ZPO für gegeben erachtet hat. Weshalb es darüber hinaus einen dringenden Fall im Sinne von §937 Abs. 2 ZPO angenommen und deshalb von einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat, obschon eine solche auch vor der Entscheidung über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung die Regel ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. Dezember 2016 – 2 BvR 617116 -, Rn. 12), lässt sich seiner Entscheidung – abgesehen von der formelhaften Wendung „wegen Dringlichkeit“ – nicht entnehmen (…)
Erstreckt sich ein einstweiliges Verfügungsverfahren über mehr als acht Wochen zwischen Antragstellung und Entscheidungsausfertigung, steht eine solche Verfahrensweise jedenfalls in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten regelmäßig in Widerspruch zu der für das Absehen von einer mündlichen Verhandlung in Anspruch genommenen gesteigerten Dringlichkeit
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