Voraussetzungen einer zulässigen Verdachtsberichterstattung (Pressebericht über Hauptverhandlung im Strafverfahren)

Der Bundesgerichtshof (VI ZR 95/21) konnte sich, anlässlich eines Presseberichts über Hauptverhandlung im Strafverfahren, zu den Voraussetzungen einer zulässigen Verdachtsberichterstattung äußern.

Dazu auch bei uns: Bericht über ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren

Identifizierender Bericht über Strafverfahren als Eingriff in das Persönlichkeitsrecht

Eine den Beschuldigten identifizierende Berichterstattung (§ 157 StPO) über die Strafverfolgung greift zwangsläufig in sein Recht auf Schutz der Persönlichkeit und des guten Rufs ein, weil sie sein mögliches Fehlverhalten öffentlich macht und seine Person in den Augen der Rezipienten negativ qualifiziert.

Allgemeines zur Verdachtsberichterstattung

Die Presse kann zur Erfüllung ihrer Aufgaben mit dem BGH nicht grundsätzlich auf eine anonymisierte Berichterstattung verwiesen werden.

Verfehlungen in der Öffentlichkeit

Es gehört, so der BGH, zu den legitimen Aufgaben der Medien, Verfehlungen auch konkreter Personen aufzuzeigen. Bei rufschädigenden Tatsachenbehauptungen wird die Abwägung der widerstreitenden Interessen wesentlich durch den Wahrheitsgehalt der Behauptung bestimmt. Wahre Tatsachenbehauptungen müssen prinzipiell hingenommen werden, auch wenn sie für den Betroffenen nachteilig sind, unwahre dagegen nicht. Allerdings kann auch eine wahre Darstellung das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen verletzen, wenn sie einen Persönlichkeitsschaden herbeizuführen droht, der außer Verhältnis zu dem Interesse an der Verbreitung der Wahrheit steht. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Äußerung geeignet ist, eine erhebliche Breitenwirkung zu entfalten und zu einer besonderen Stigmatisierung des Betroffenen zu führen, sodass sie zum Anknüpfungspunkt für eine soziale Ausgrenzung und Isolierung zu werden droht.

Gewichtung von Persönlichkeitsrecht und Informationsinteresse

Bei der Gewichtung des Informationsinteresses gegenüber dem kollidierenden Persönlichkeitsschutz kommt dem Gegenstand der Berichterstattung entscheidende Bedeutung zu. Handelt es sich um die Berichterstattung über eine Straftat, ist zu berücksichtigen, dass eine solche zum Zeitgeschehen gehört, dessen Vermittlung Aufgabe der Medien ist. Die Verletzung der Rechtsordnung begründet grundsätzlich ein anzuerkennendes Interesse der Öffentlichkeit an näheren Informationen über Tat und Täter. Dieses wird umso stärker sein, je mehr sich die Tat durch Begehungsweise, Schwere oder sonstige Besonderheiten von der gewöhnlichen Kriminalität abhebt.

Bei der Abwägung zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit an einer Berichterstattung und dem damit zwangsläufig verbundenen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Täters verdient bei der aktuellen Berichterstattung über Straftaten in der Regel das Informationsinteresse den Vorrang. Denn wer den Rechtsfrieden bricht, muss sich nicht nur den dafür verhängten strafrechtlichen Sanktionen beugen, sondern auch dulden, dass das von ihm selbst geweckte Informationsinteresse der Öffentlichkeit auf den dafür üblichen Wegen befriedigt wird. Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht muss aber in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Fehlverhaltens und seiner sonstigen Bedeutung für die Öffentlichkeit stehen. Für die Abwägung ist auch von Bedeutung, ob die Berichterstattung lediglich der Befriedigung der Neugier des Publikums dient oder ob sie einen Beitrag zur Meinungsbildung in einer demokratischen Gesellschaft leistet und die Presse damit ihre Funktion als „Wächter der Öffentlichkeit“ wahrnimmt.

Sorgfaltspflichten der Presse

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH sowie des Bundesverfassungsgerichts darf eine Tatsachenbehauptung, deren Wahrheitsgehalt ungeklärt ist und die eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage betrifft, demjenigen, der sie aufstellt oder verbreitet, solange nicht untersagt werden, wie er sie zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für erforderlich halten darf (Art. 5 GG, § 193 StGB).

Eine Berufung hierauf setzt voraus, dass vor dem Aufstellen oder Verbreiten der Behauptung hinreichend sorgfältige Recherchen über ihren Wahrheitsgehalt angestellt worden sind. Die Pflichten zur sorgfältigen Recherche über den Wahrheitsgehalt richten sich dabei nach den Aufklärungsmöglichkeiten. Sie sind für Medien grundsätzlich strenger als für Privatpersonen. Im Interesse der Meinungsfreiheit dürfen an die Wahrheitspflicht keine Anforderungen gestellt werden, die die Bereitschaft, von diesem Grundrecht Gebrauch zu machen, mindern. Andererseits sind die Anforderungen umso höher, je schwerer die Äußerung in das Persönlichkeitsrecht eingreift. Allerdings ist auch das Interesse der Öffentlichkeit an der Äußerung zu berücksichtigen.


Verdachtsberichterstattung auch im Strafverfahren zulässig

Diese Maßstäbe gelten grundsätzlich auch für die Berichterstattung über ein laufendes Strafverfahren unter namentlicher Nennung des Beschuldigten (§ 157 StPO). In diesem Verfahrensstadium steht nicht fest, ob der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat. Zwar gehört es zu den legitimen Aufgaben der Medien, Verfehlungen – auch konkreter Personen – aufzuzeigen.

Im Hinblick auf die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende und in Art. 6 Abs. 2 EMRK anerkannte Unschuldsvermutung ist jedoch der Gefahr Rechnung zu tragen, dass die Öffentlichkeit die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oder die Durchführung eines Strafverfahrens mit einem Schuldnachweis gleichsetzt und daher im Falle einer späteren Einstellung des Verfahrens oder eines Freispruchs vom Schuldvorwurf „etwas hängen bleibt“. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung gilt für die identifizierende Berichterstattung über die öffentliche Hauptverhandlung eines Strafgerichts grundsätzlich nichts anderes.

Erforderlich ist jedenfalls ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst „Öffentlichkeitswert“ verleihen. Die Darstellung darf ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten, also nicht durch eine vorverurteilende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Tat bereits überführt. Vor der Veröffentlichung ist regelmäßig auch eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Schließlich muss es sich um einen Vorgang von erheblicher Bedeutung handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist.

Fachanwalt für IT-Recht Jens Ferner